Im Wettbewerb des WESTWIND wurden zwei Stücke gezeigt, die man als Recherchetheater bezeichnen kann: „Das Schutzengelhaus“ von mini-art und „All about nothing“ von pulk fiktion. Beide Stücke beschäftigen sich mit tatsächlichen historischen oder gegenwärtigen gesellschaftlichen Problemen. Zwar geht beiden Theaterprojekten eine intensive Recherchearbeit voraus, allerdings unterscheiden sich die Herangehensweisen und Umsetzungen des Materials deutlich. Die Gegensätzlichkeit der beiden Stücke hat uns dazu gebracht, über dokumentarisches Jugendtheater nachzudenken.
(Da es hier um Recherche geht, möchten wir unsere eigene Recherche auch etwas offenlegen. Deswegen gibt es in den Text integriert Ausschnitte aus unseren Interviews.)
„Das Schutzengelhaus“
Die Idee, sich mit dem Thema Psychiatrie zur Zeit des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen, ist bereits fünfzehn Jahre alt, erklärt Crischa Ohler. Sie ist als Schauspielerin, Szenografin und Regisseurin Teil von Theater mini-art, der Gruppe hinter dem Stück „Das Schutzengelhaus“. Das Thema spukt schon lange durch die Köpfe des Ensembles, das seit vielen Jahren auf dem Gelände einer psychiatrischen Klinik in Bedburg-Hau probt.
Nachdem sich das Team von mini-art bereits 2012 im Stück „Ännes letzte Reise“ mit dem Schicksal einer jungen Frau beschäftigt hatte, die unter dem NS-Regime in einer psychiatrischen Klinik ermordet wurde, widmet sich die Gruppe nun speziell dem Thema Kinder-Euthanasie. Und einem bestimmten Ort: Dem „Schutzengelhaus“ in Waldniel-Hostert in der Nähe von Mönchengladbach.
Dieser makaber anmutende Name stammt noch aus der Zeit vor 1937, als das Gelände in Waldniel-Hostert im Besitz eines Franziskanerordens war und unter anderem eine Pflegeeinrichtung für Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen beherbergte. Im Jahr 1939 wurde das ehemalige Klostergelände zu einer sogenannten Kinderfachabteilung umfunktioniert, in der Kinder mit Behinderung, denen ein lebenswertes Leben abgesprochen wurde, systematisch getötet wurden.
Anderthalb Jahre lang hat das Team von mini-art für das Stück recherchiert. Sie haben Forschungsliteratur zu Euthanasie in der NS-Zeit gewälzt, Zeitungsartikel gesichtet und Foto- und Filmmaterial zusammengetragen. Vor allem aber haben sie versucht, mehr über die spezielle Geschichte von Waldniel-Hostert zu erfahren. Dazu haben sie den Ort besucht und Patientenakten eingesehen. Was sie dort fanden, waren unter anderem Gesprächsprotokolle der Ärzte und Briefe, die die Eltern der untergebrachten Kinder an die Leitung der Anstalt geschrieben hatten.
Bei ihren Recherchen trafen sie aber auch immer wieder auf Widerstand. So war es zum Beispiel sehr schwierig, die Namen der 99 Kinder in Erfahrung zu bringen, die zwischen 1939 und 1943 in Waldniel-Hostert ermordet wurden. Dass über die Geschehnisse von damals noch immer Stillschweigen bewahrt wird, macht es für Crischa Ohler noch wichtiger, über das Thema zu sprechen.
Es ging immer darum Fakten zu sammeln und sie zur Verfügung zu stellen, aber dann nach dem persönlichen Zugang zu suchen.
Aus dem vielfältigen Material, das mini-art zusammengetragen hat, ist eine Szenencollage entstanden. Das Schauspiel wird immer wieder durchbrochen durch Projektionen von Filmaufnahmen aus den 30ern und von Zitaten von Politikern, Wissenschaftlern und Juristen aus der Zeit. Auf diese Weise soll das Publikum über den historischen Zusammenhang informiert werden. Außerdem werden Audioaufnahmen eingespielt, beispielsweise vorgelesene Elternbriefe. Ebenso sind die Namen der ermordeten Kinder eingesprochen von Schüler*innen aus der Umgebung der ehemaligen Klinik zu hören.
Das Bühnenbild ist dem Rechercheaufenthalt vor Ort nachempfunden und deutet die verfallene Anstalt an. Die Szenen selbst entwickelte mini-art aus dem Recherchematerial, vor allem auf Basis von Patientenakten. Zum Beispiel wird man Zeuge eines Aufnahmegesprächs zwischen einer Ärztin und einem Jungen, das auf einem realen Gesprächsprotokoll basiert. Durch die schauspielerische Darstellung tatsächlicher Szenen, sollen die Geschehnisse auch emotional nachvollziehbar werden.
„All about nothing“
Auch dem Stück „All about nothing“ über Kinderarmut in Deutschland geht eine intensive Recherche voraus. Allerdings ist schon der Ausgangspunkt ein anderer. Denn der Rechercheprozess der Kölner Gruppe pulk fiktion begann mit Eigenreflektion. Die Theatermacher*innen fragten sich: Wo sind wir dem Thema Kinderarmut selbst begegnet? Welche Vorstellungen haben wir davon? Wie wird das Thema in den Medien dargestellt? Und welche Klischees herrschen? Laut Norman Grotegut ist dieses Vorgehen typisch für die Gruppe.
Um aus erster Hand etwas über das Thema zu erfahren, ging die Gruppe an Schulen, Kinder- und Jugendzentren und zum „Kalker Mittagstisch“, einer Art privat betriebener Suppenküche in Köln. Sie führten Interviews mit von Armut betroffenen Jugendlichen über deren Probleme, aber auch ihre Wünsche und Pläne für die Zukunft. Außerdem setzten die Theatermacher*innen sich theoretisch mit dem Thema auseinander, trugen Statistiken und Experteninterviews zusammen und besuchten Vorträge von Wissenschaftlern, wie Dr. Wolfgang Ziegler.
Norman Grotegut beschreibt die Recherchearbeit als Sensibilisierungsprozess, denn es ginge dabei nicht nur um eine Auseinandersetzung mit dem Thema, sondern auch mit sich selbst, mit seinen eigenen Meinungen und seiner gesellschaftlichen Position.
Die Umsetzung des Stücks gleicht mehr einer Performance als einem klassischen Schauspiel. Die Darsteller*innen stellen sich zu Beginn namentlich vor und erklären, was ihre Aufgabe auf der Bühne sein wird. Von Anfang an ist klar, was hier gezeigt wird, ist ihre Auseinandersetzung mit dem Thema. Diese erfolgt in Form von Tanz, Live-Illustration, Schauspiel und Musik.
Einen großen Teil der Performance nehmen auch O-Töne aus den Interviews mit den Jugendlichen ein. Auf dem Bühnenboden befinden sich mehrere Schalter, die bei Berührung Gesprächsfetzen abspielen. Die Performer*innen bewegen ihre Lippen dazu, verkörpern aber nicht die Sprecher*innen. Es geht der Gruppe darum, den „Betroffenen“ selbst eine Stimme zu geben.
Auf diese Weise macht pulk fiktion auf Kinderarmut aufmerksam, liefert aber keine plumpen Lösungsvorschläge. Sie setzen sich spielerisch und oft ironisch mit dem ernsten Stoff auseinander und lassen dem jugendlichen Zielpublikum so Raum, um selbst nachzudenken. Das funktioniert ausgesprochen gut, denn mit „All about nothing“ konnte pulk fiktion sowohl den Preis der Fach- als auch den Preis der Jugendjury absahnen!