Ästhetische Bildung als Anliegen des Kinder- und Jugendtheaters

In einem Radio-Interview wurde ich gefragt:

Was willst du im Kinder- und Jugendtheater sehen?

Ehrlich gesagt, musste ich länger überlegen. Aber vielleicht liegt es daran, dass „sehen“ auch schon eine Einschränkung ist und es für mich persönlich darum geht eben diese Einschränkungen zu hinterfragen. Es geht nicht nur um ein Sehen. Es geht vielmehr um ein Erleben. Das hat dann mit allen Sinnen zu tun und geht noch darüber hinaus. Ich will riechen, sehen, schmecken, hören, denken, benutzen, fühlen, bereuen, trauern, verstehen, verachten, beurteilen, sprechen, entdecken. Theater ist letztendlich doch ein unschlagbares Medium. Es kann mehr sein als ein Sehen. Die möglichen Formate und Ästhetiken sind zahllos und längst nicht erschöpft. Gerade im Theater für Kinder und Jugendliche würde ich mir wünschen, dass eine Vielzahl von Formen, Farben und Inhalten zelebriert wird, sodass man von Anfang an mit einem Theaterbegriff durchs Leben geht, der nichts ausschließt. Kinder sollten ins Theater gehen und sich dabei nicht sicher sein können, was dort passieren wird. Theater für Kinder und Jugendliche zu machen heißt
Verantwortung dafür zu tragen, dass Theater von Anfang an mehr sein muss, als in einem abgedunkelten Raum zu sitzen. Junges Publikum sollte dafür sensibilisiert werden, dass ins Theater gehen auch nass werden, bewegen, Bagger fahren, abstimmen, anfassen und Rätsel lösen heißen kann.

In meiner Reflexion würde ich mich gerne mit der Frage beschäftigen, inwiefern Theaterinszenierungen des Westwind-Festivals 2016 ein Anliegen der ästhetischen Bildung für junges Publikum formuliert haben. Wird in der Stückauswahl eine Diversität von theatralen
Dimensionen und Formen abgebildet? Welchen Stücken gelingt dies im Einzelnen besonders gut?
Um einen ersten Eindruck vorweg zu nehmen: Ich habe mich für dieses Thema entschieden, da ich von der geringen Formenvielfalt enttäuscht war und einen Mangel an erlebnisorientiertem Theater festgestellt habe. Die Eventisierung von Theater steht in der Kritik, jedoch habe ich das Gefühl, dass ein Theatererlebnis im besten Falle eine Erinnerung wird. Eine Erinnerung an einen Moment, ein Ereignis oder ein Gefühl, das ich mit dieser Inszenierung verbinde. Um das zu erzeugen braucht es Strategien. Um verschiedenen Inhalten, Stoffen oder Themen gerecht zu werden und ein besonderes Erlebnis, eine wichtige und kostbare Erinnerung zu schaffen, müssen logischerweise auch verschiedene Strategien angewendet werden.

Ich würde alle eingeladenen Produktionen des Wettbewerbs als konventionell beschreiben. Dies ist erst mal kein Qualitätsurteil, sondern lediglich eine Feststellung, die meint, dass sie etablierte und bekannte Formen von Darstellung und der Organisation eines Theaterrahmens und Publikums verwenden. Sie fanden alle in klassischen Theaterräumen statt. Alle hatten eine Aufführungsdauer
zwischen 45 und 85 Minuten. Alle Aufführungen hatten ein Publikum von ca. 50 bis 200 Zuschauenden. In keiner Vorstellung waren die Zuschauenden in Bewegung oder hatten konkrete Aufgaben, abseits der Rezeption des Bühnengeschehens, zu bewältigen. Nur eine einzige Produktion (Co-Starring vom Jungen Schauspielhaus Bochum) löst die traditionelle Sitzsituation auf und holt die Zuschauenden mit auf die Bühne. Ganze sieben von zehn Aufführungen orientieren sich an einer Buch – oder Textvorlage. Alle Produktionen sind in ihrer gesamten Ausgestaltung sehr dicht beieinander. Es fällt auf, dass eine ästhetische Öffnung oft mit dem Abweichen von einer klassischen Narration, im Sinne einer erzählten Geschichte einhergeht. Produktionen, die sich davon lösen, finden in ihrer Formorientierung spannendere Ausprägungen.

Ich möchte jetzt auf Produktionen zu sprechen kommen, die mich persönlich aufgrund ihrer ästhetischen Ausgestaltung überzeugt haben. Sie eröffnen das Theater als einen Raum, in dem alles passieren kann und lassen junges Publikum Dinge erleben, die vermeintlich keinen Platz in einem Theaterrahmen haben. Das ausgezeichnete Stück „Das unsichtbare Haus“ vom Jungen Theater Münster und der Performing Group Köln stellt verschiedene bekannte Darstellungsformen gegenüber. Die Narration gleicht hier einem Vortrag. Das Format ist den Zuschauenden aus der Schule oder anderen Vortragskontexten bekannt. Für eine Theateraufführung ist es jedoch vermeintlich untypisch. Die Lecture-Performance wird durch große Videotechnik unterstützt und mit dem tendenziell gegensätzlichen Medium des Tanzes kombiniert. Die klare Sprache und Wissensvermittlung wird der wortlosen und auf Interpretation aufbauenden Bewegung gegenübergestellt. Der hier entstehende Mehrwert ist ein anderes Theater – Eine Spieler*innenhaltung die abseits von Rolle oder Figur funktioniert und eine Reduktion, die ein Repräsentationstheater verneint. So wird hier die Geschichte der Welt verhandelt.

Einen anderen, aber ebenso beachtlichen Weg wählt Regisseur Thomas Fiedler vom Theater Oberhausen. „Eine kurze Geschichte der Welt“ ist ein optisches und musikalisches Feuerwerk. Die Arbeit erinnert an eine Revue. Das Publikum wird mit geballter Opulenz, Ironie und Exzentrik durch die Vergangenheit bis über das Heute hinweg geführt. Am Ende steht ein queerer Avatar, ein Geschöpf ohne klares Geschlecht. Es glitzert, ist schrill, entspricht keiner Norm und ist nicht einzuordnen. Allein schon durch das Kostüm wird hier definiert, was eine erzählenswerte Zukunft sein könnte. Hier werden die Bilder zum Inhalt und die Unklarheiten zur Herausforderung. Es ist eine Theateraufführung in der scheinbar alles erlaubt ist.

Neben den ausgewählten Produktionen, die in den vergangenen zwei Jahren in Nordrhein-Westfalen für junges Publikum entstanden sind, waren verschiedene internationale Gastspiele Teil des Westwind Festivals. Diese haben eine andere ästhetische Diversität abgebildet, als die Auswahl der Jury. In „football on stilettos“ der Kopergietery aus Gent werden bestimmte Performative Handlungen außerhalb von einem inhaltlichen Kontext vollzogen. Mit einer Kreissäge werden Baguettestangen zerschnitten. Auf der Bühne wird gegrillt. Hier werden rein ästhetisch und assoziative Momente zugelassen. Hier werden Dinge nicht erklärt und setzen sich doch zu einer
Show der klaren Botschaft zusammen.

„L’animalada“ vom Theater Katakrak aus Barcelona ist eine Spielinstallation. Hier kann gar nicht von Zuschauenden gesprochen werden. Alle sind Teilnehmer*innen. Man muss das eigene Geschick unter Beweis stellen und ist mit den Versuchen Murmeln zu lenken, Bälle zu katapultieren und Wasser zu transportieren auch im eigenen Scheitern einem Publikum ausgesetzt. Jede*r ist Hauptakteur*in einer eigenen Aufführung, in der man sich mit dem eigenen Ehrgeiz, Geschick, Erfolg und Misserfolg auseinandersetzt.

Aus den Niederlanden kamen Arch8 mit ihrer Produktion „Murikamification“. Fünf Performer*innen lotsen das Publikum durch das Gelände. Sie zeigen vollen Einsatz und bewegen sich im Regen mit Tanz- und Parcourselementen durch die Industrielandschaft, das Waldstück oder die Innenstadt. Sie bespielen den bestehenden Raum, machen ihn zur Bühne. Sie bespielen das Publikum und beziehen es in ihre Bewegung mit ein. Ihre Bühne ist jeder Türrahmen, jede Parkbank und über, unter und neben jedem der Zuschauenden.

Eine Auswahl aus einem internationalen Pool an Produktionen für junges Publikum zu kuratieren, erklärt eine besondere Qualität. Trotzdem ist zu hinterfragen, wie fünf Produktionen eine größere und spannendere Formenvielfalt abbilden können als ein Kanon aus zehn Produktionen, der eine Auswahl von spannenden, progressiven und zeitgemäßen Stücken darstellen soll. Als ich mit dieser Frage über das Festival gelaufen bin, wurde ich oft auf strukturelle Hindernisse verwiesen: Man könne sich das nicht leisten. Man könne so etwas hier nicht machen. Das würde hier keiner sehen wollen. Das wäre für viele kein Theater mehr.

Ich kann als Studierender und frei produzierender Theaterschaffender bestimmte Strukturen bestimmt nicht einschätzen. Ich will die damit verbundenen Einschränkungen auch gar nicht klein Reden. Ich spreche im Sinne einer Utopie. Einem Wunsch sich gegen diese strukturellen Hindernisse aufzulehnen und Theater zu einem riskanten, erlebnisorientierten und grenzenlosen Ort zu machen. Besonders Kinder und Jugendliche sollten erleben was Theater alles sein kann.

Nämlich alles.

 

Von Till Wiebel

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