„What can you do for three-year-olds?“ – Theater für ganz junges Publikum

© Marion Kahane

Wenn ich mit meinem vierjährigen Neffen ein Wochenendprogramm plane, dann steht Theater bisher meistens nicht zur Auswahl. Die Angebote sind rar gesät. Irgendwie finde ich das ungerecht, es sollte mehr davon geben. Doch wie macht man überhaupt Theater für kleine Kinder? Was funktioniert und warum?

Zum WESTWIND 2107 waren drei Inszenierungen eingeladen, die sich auch schon an Dreijährige richten. Alle geben auf die aufgeworfenen Fragen ganz unterschiedliche Antworten.

Antwort #1: Tiefgründige Geschichten, deren zentrale Gefühle auch kleine Kinder schon kennen

© Willi Filz

Das AGORA Theater zeigt auf dem WESTWIND 2017 Die Geschichte eines langen Tages für Menschen ab 3 Jahren. Die Gruppe erzählt in dem Stück die Geschichte des Zusammentreffens von Avi, Iva und Plug. Dabei arbeitet die Inszenierung mit Mitteln des Tanzes, Schauspiels und der Zauberei. Zuschauerraum und Bühnenraum verschmelzen in einem liebevoll gestalteten, gemütlichen Wohnzimmer. Dieser konkrete Ausschnitt der Welt, in der die Protagonist*innen leben, erleichtert es dem Publikum – insbesondere denen, die abstraktes Denken noch entwickeln – in diese einzutauchen.

Sascha Bauer berichtet von der Arbeitsweise des AGORA Theaters, die auf den Gründer Marcel Cremer zurückgeht: Am Anfang jeder Stückentwicklung verlässt das Ensemble den Alltag, sucht Ruhe beispielsweise im Wald oder am Meer und begibt sich auf eine Reise in die eigene Kindheit, um darin verborgene Geschichten zu entdecken. Das Vorgehen gründet auf der Überzeugung, dass die meisten prägenden Erfahrungen eines Menschen in den ersten Lebensjahren gemacht werden.

Mit acht Jahren ist man eigentlich ein fertiger Mensch.
(Sascha Bauer, AGORA Theater, spielt Avi)

Es geht darum, Erinnerungen an Schlüsselmomente wach zu rufen, welche die Gefühlswelt eines jeden Ensemble-Mitglieds gegenüber eines Themas aufschließen können. Diese Herangehensweise beinhaltet automatisch eine intensive Auseinandersetzung mit kindlichen Erfahrungswelten. Die fertigen Stücke sind davon geprägt. Auch wenn sie vielschichtig sind, bleibt der Ausgangspunkt bei kindlichen Erfahrungen stets spürbar.

In Die Geschichte eines langen Tages verhandelt das Ensemble das Thema Fremdheit, konzentriert sich dabei aber auf die Situation des Zusammentreffens von Neu und Alt, der Kontext ist unklar und offen für Interpretationen. Line Lerho erzählt, dass selbst die kleinsten Kinder das Gefühl kennen, fremd zu sein oder sich in einer etablierten Situation auf Neues einstellen zu müssen. Als Beispiel nennt sie die Kindergartengruppe.

Dass Erwachsene das Geschehen sicherlich mit anderen Augen sehen und es beispielsweise als Metapher für den aktuellen gesellschaftlichen Diskurs um Zuwanderung lesen, ist dabei natürlich gewollt. Die Situation bleibt jedoch mehrdeutig und bietet für viele Menschen Anknüpfungspunkte. Auf der Bühne wird die bestehende Ordnung durch Alltagsroutinen symbolisiert, die verbunden werden zu einer eingespielten, ästhetischen Choreographie. Diese versprüht einen gewissen Witz und ruft durch Wiederholung, Wiedererkennen und den späteren Bruch mit dem Bekannten gerade bei Kindern großen Spaß hervor.

 

Antwort #2: Spektakel voller Reize und Reflexion

© Bettina Engel-Albustin

Die Gruppe BonteHond wählt mit ihrem Stück Aaipet einen gänzlich anderen Ansatz, um Kinder ab drei Jahren für sich zu gewinnen. Aaipet ist eine Nummernrevue aus Klassikern des Slapstick, der Pantomime, des Puppenspiels und der Zauberei. Die zitierten Formen der darstellenden Kunst können sicherlich auch für sich genommen unterhaltsam sein, der Clou an der Inszenierung ist jedoch, dass das iPad eingebaut wird und eine bedeutende Funktion einnimmt, die über die eines Requisits weit hinausgeht. René Geerlings, künstlerischer Leiter bei BonteHond, erzählt:

Ich war wirklich beuhruhigt darüber, wie Kinder heute aufwachsen mit all diesen Touchscreens und iPads und solchen Sachen. Deshalb habe ich diese Show auf einer Slapstick-Ebene für die kleinsten Kinder gemacht. Aber ich hoffe, dass sie auf einer niedrigen, mehr intuitiven Ebene verstehen, dass es auch um die Frage nach neuen Medien geht und wie sie sich ausbreiten: Kontrollieren wir die Medien? Oder kontrollieren die Medien uns? Das ist die Frage und ich gebe darauf keine direkte Antwort.

Ich habe das Glück, die Aufführung gemeinsam mit zwei Kindergartengruppen anzuschauen. Es ist großartig, zu erleben, wie sehr die Kinder mitfiebern und sich während einer Verfolgungsjagd durch ihr lautes Gekreische in das Geschehen einmischen. Dieser Effekt ist möglicherweise so alt wie das Theater selbst. In der heutigen Zeit, in der Geerling die Bedeutung des Kindertheaters als umkämpft wahrnimmt, verbindet er mit dieser Szene jedoch eine besondere Intention.

Ich liebe es sehr, diese Kinder zum Kreischen zu bringen und zum Handeln zu animieren, so versuche ich Anarchie herzustellen. (…) Ich mag es sehr, wenn Kinder sich darin verlieren und hoffe, dass die Lehrer das zulassen. Dass sie es zulassen, weil Theater Kunst ist, und Kunst etwas entfachen soll. Andernfalls wäre es Erziehung und das ist etwas ganz anderes. Ich versuche nicht, zu erziehen.

Mein Eindruck ist, dass das ziemlich gut funktioniert. Nicht zuletzt durch die Prise Fekalhumor die Geerling und sein Ensemble in Aaipet einbringen, grenzen sie sich von einer allzu pädagogischen Haltung ab. BonteHond will zwar nicht erzieherisch wirken, aber es geht Geerling in seiner Arbeit, neben der Frage nach der Macht der Medien in Aaipet, generell darum, das Selbstbewusstsein von Kindern zu stärken.

Ich hoffe, sie denken nach und stellen sich Fragen. Ich hoffe, diese Kinder nehmen Erwachsene nicht so ernst, wie die sich selbst nehmen. Ich versuche zu zeigen, dass die Erwachsenenwelt auch kindisch ist. Erwachsene wissen nicht alles. Sie sind auch nur Kinder in einem größeren Körper. Sie tun zwar so, als wüssten sie alles, aber das stimmt nicht.

(Weitere Impressionen zu Aaipet findet ihr hier.)

 

Antwort #3: Faszination durch visuelles Konzert in interaktiver Rauminstallation

Die Performance beginnt bereits im Vorraum der Aula des Gymnasiums in den Filder Benden. Nach kurzer einführender Rede, in der das Publikum gebeten wird, sich der Schuhe zu entledigen, und in zwei Gruppen aufgeteilt wird, geht es auch schon los. Die Aula öffnet sich und es kommen zwei Performer musizierend mit Pauke und Flöte heraus. Jeweils einem Instrument folgend betreten beide Gruppen in einer Prozession die wundersam gestaltete Schulaula. Eine Gruppe nimmt zunächst eine Beobachterposition auf Stühlen am Rande des Geschehens ein, die andere kann es sich auf Teppichen und Kissen in Mitten einer riesigen Klanginstallation, die an Spielbögen für Babys erinnert, gemütlich machen. Diese Assoziation entspricht dem Ansatz der Gruppe De Spiegel, Theater für alle ab 8 Monaten anzubieten.

In der Mitte befindet sich ein großes Objekt, ein großer Ball bedeckt mit einer Art Riesentamburin, dessen schwach gespanntes Fell sich um die Kugel schmiegt. Die zwei Performer versetzen es langsam in Bewegung und beginnen, damit zu spielen. Das Spiel mit den verschiedenen Elementen des Raumes löst immer wieder neue Prozesse aus, die wie in einer verrückten Maschine ablaufen und am Ende neue Spielanlässe bieten. Auf die Murmelbahn folgt ein pendelnder Lampion und so weiter. Performer und Maschine erzeugen auf unterschiedlichste Art und Weise Klänge:  Sie lassen verschiedene Blasinstrumente erklingen, Reis in Eimer rieseln und schlagen mit einer Kette auf eine Trommel. Daraus entwickeln sich Rhythmen, Klänge werden zu Musik.

Das ist auch visuell so spannend, dass meist keine weiteren Bilder erzeugt werden müssen. Es treten aber immer wieder Lichteffekte hinzu. Sie werden durch einen dritten Performer auf analoge Weise erzeugt. Ein Overhead-Projektor ist sein bevorzugtes Instrument. Er verändert das weiße Licht durch Farbfilter, mustergestanzte Folien und den Einsatz von Flüssigkeiten auf der Arbeitsplatte des Projektors. Außerdem ist das Schattenspiel ein mehrfach genutztes Mittel, um das Livegeschehen auf einem großen, mit Stoff bespannten Rahmen abzubilden.

Die verschiedenen Objekte dienen nicht nur als Klangerzeuger, sondern gleichzeitig auch als szenisches Spielzeug, wenn beispielsweise zwei Performer mit Tamburin und Ball beginnen, Tennis zu spielen.

Im zweiten Teil der Aufführung wechseln die beiden Gruppen ihre Positionen. Ich nehme im Inneren der Installation Platz und folge nun von hier aus der Aufführung. Dabei teile ich den Raum auch mit mehreren Kleinkindern und kann so direkt beobachten, wie das Stück bei seinem Zielpublikum ankommt. Ein Kind, das geschätzt sein erstes Lebensjahr noch nicht vollendet hat, dreht seinen Kopf in Richtung jedes neuen akustischen oder visuellen Reizes und ist dabei so fasziniert, dass es das Schreien ganz vergisst. Ein etwas älteres Kind, noch wackelig auf den Beinen, folgt den Performern zu warbenartigen Lichtobjekten und beschäftigt sich dann eine Weile damit, bis es einem anderen Impuls folgt und eine neue Richtung einschlägt. Für die Performer scheint diese Situation gewohnt, mehr noch: Sie beziehen die Kinder gegen Ende der Performance aktiv mit ein, gehen zu ihnen und lassen sie die verschiedenen Trommeln schlagen. Die Aufführungssituation wird dadurch aufgelöst und das Publikum eingeladen, den faszinierenden Klangspielplatz zu erkunden und auszuprobieren.

KLUB KIRSCHROT
KLUB KIRSCHROT entwickeln in kollektiven Arbeitsprozessen Theaterstücke für ein junges Publikum. Das WESTWIND 2017 dokumentiert KLUB KIRSCHROT als WESTWIND-Blog Team bestehend aus Rosi Böhm, Kristin Grün, Sarah Kramer und Matthias Linnemann.

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