EIS UND KALTER JAMMER (ALLES PALeTTE)

Was entsteht, wenn die Künstler*innen von Alles Palette und die Kinder der Grundschule am Rather Kreuzweg gemeinsam Theater machen:

„EIS UND KALTER JAMMER.“

Eine Woche nach meinem ersten Besuch finde ich mich in Raum 302 wieder. Diesmal ist alles anders, kein Erbsen-Chaos und keine Raumstation. Als ich die Tür zum Klassenzimmer öffne, ist es mucksmäuschenstill. Der Workshop hat schon angefangen. In jeder Ecke ist ein Kind versteckt. Schnell mache ich die Tür wieder zu. „Ich warte bis alle schreien, das kann nicht lang dauern, dann gehe ich schnell rein,“ gedacht, getan. Unauffällig verstecke ich mich in einer Ecke und beobachte die Situation. Die Gruppe sitzt in einem Kreis, in der Mitte steht ein Aufnahmegerät. „Heute geht es ums Verschwinden“, sagt Alice*. Mir fällt ein, dass sich die Gruppe an diesem Tag mit dem Theaterstück Nimmermehr von Antje Pfundtner beschäftigt. Anscheinend interessiert sie daran das Thema „Verschwinden“.

Alice fragt in die Runde:„Was ist schon alles verschwunden?“

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Die Kinder überlegen, und nacheinander erzählen sie Geschichten, von verschwundenem Spielzeug, verschwundenen Haustieren, Milchzähnen und stellen erstaunt fest, dass sogar Eltern verschwinden können. Anschließend stellen sie sich die Frage: Auf welche Art und Weise Dinge verschwinden? „Durch verstecken oder weg nehmen oder runter fallen“, sagt ein Kind. Das regt die anderen dazu an, darüber nachzudenken, wer ihnen schon mal etwas weggenommen hat, dabei stehen Diebe und Geschwister hoch im Kurs. „Und wie ist es mit Geschichten von Sachen, die erst verschwinden und dann wieder auftauchen?“, fragt Alice. Dazu fällt der Gruppe einiges ein – „Ich war mit meiner Mutter im Supermarkt und dann war ich weg und da war dann so ein Mann, der hat meinen Namen durch so einen Lautsprecher gesagt und dann konnte meine Mutter mich auch finden.“

Nach fünfzehn Minuten spannendem Erzählen, teilt sich die Gruppe in 3 kleine Gruppen. Die Aufgabe: Wie können wir etwas auf der Palette verschwinden oder auftauchen lassen?

Ich halte mich im Hintergrund und belausche eine der Gruppen: „Wir haben hier diese Exe. Sie hat die Exe dann weggenommen. Wir haben gespielt und dann sind ihre Freundinnen gekommen. Die haben dann auch gespielt und die wollten dann auch diese Exe, weil die eifersüchtig waren und deshalb haben sie die weggenommen.“

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Nachdem sich die Gruppe auf einen ungefähren Ablauf der Geschichte einigen konnte, probieren sie es direkt auf der Palette und eigentlich auch im ganzen Rest des Raumes aus. Ich verstehe zwar nicht, wer hier gerade wem etwas wegnimmt, aber die Kinder sind voll drin.

Nach 20 Minuten Probezeit kommen alle Gruppen zurück in den Klassenraum. Die Ergebnisse werden auf der Palette präsentiert: Die Exe-Geschichte-Gruppe macht den Anfang. Danach folgt eine Gruppe, die sich ganz langsam auf die Palette schleicht und das Publikum so laut erschrickt, dass die Hälfte von uns zusammenzuckt.

Die dritte Gruppe ist an der Reihe. Die Kinder stehen noch in der Eingangstür. „Das ist jetzt vielleicht ein bisschen gemein, aber wir lassen auch gleich etwas verschwinden, guckt mal, was das sein könnte?“, sagt Alice.

Ich bin gespannt was sich diese Gruppe ausgedacht hat und traue meinen Augen nicht. An mir vorbei schieben sich 6 Kinder mit breitem Grinsen und kommentierender Weise: „Tja, das tut mir jetzt aber leid“, „ Das ist ganz schön lecker“, „Haha, ihr habt nichts“.

Die Kinder stellen sich auf die Palette und beginnen vor unseren Augen EIS zu essen. „Neiiin, wie gemeiiin!“, „Das kann nicht sein!“, „Haben die jetzt wirklich echtes Eis?“, „Die haben Eis“, „Ich will auch, wie fies“, jammert es im ganzen Raum. Die Kinder auf der Palette sind eiskalt entspannt. Sie haben alle Zeit der Welt und essen uns genüsslich und mit großer Freude etwas vor. Und wir, die Zuschauer*innen, müssen das aushalten, Irritation pur.

Die Situation ist genial!

Mir kommt sofort in den Kopf was Alice bei unserem Interview, über ihren Theateransatz gesagt hat: „Ich bin immer daran interessiert, was eine Aufführung zur Aufführung macht, also was unterscheidet Aufführung von Alltag oder wie kann Alltag zur Aufführung werden und was für Parameter braucht das? Also, wie kann man Rahmen so setzten, das bestimmte Dingen, die eigentlich von draußen kommen, auf einmal im Theater landen und zur Bühnenhandlung werden?“

Natürlich gibt´s im Anschluss an diese Situation auch für uns ein Eis. Während ich mein Eis esse, denke ich darüber nach, was den Unterschied zwischen einer künstlerischen Zusammenarbeit mit Kindern und Jugendlichen und einer theaterpädagogischen Arbeitsweise ausmacht, wenn es überhaupt einen gibt?

Zum Beispiel Alice: Sie geht einer Forschungsfrage nach, welche sie für sich als Künstler*in ganz klar formuliert hat. Dabei steht ihr Interesse am Gegenstand im Vordergrund. Dieser Gegenstand ist also, nicht in erster Linie der Mensch selbst, sondern in diesem Fall, die Frage was eine Aufführung von Alltag unterscheidet. Darauf bezieht sie sich auch in ihrer Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Die Kinder kommen mit einer Idee und Alice sucht nach einem Rahmen, „der bestimmte Dinge, die eigentlich von draußen kommen, auf einmal in Theater verwandelt und zur Bühnenhandlung werden lässt.“ Das bedeutet, dass die Kinder und Jugendlichen inhaltlich beteiligt sind, aber nicht unbedingt reflektieren müssen, wie ihre Handlung auf der Bühne wirkt.

Wenn ich diesen Ansatz auf den Kontext des Festivals übertrage und darüber nachdenke, dass die Kinder und Jugendlichen dort in erster Linie für ein erwachsenes Fachpublikum spielen werden, stelle ich mir die Frage, ob die Kooperation zwischen Künstler*innengruppen und Kindern/Jugendlichen in diesem Rahmen noch weiter gedacht werden kann?

Es geht in erster Linie um einen Austausch zwischen Erwachsenen (Theatermacher*innen) und Kindern/Jugendlichen. Es geht nicht primär um die Begegnung der Zielgruppe untereinander. Davon ausgehend ist die Kooperation dieser beiden Gruppen das eigentlich Interessante.

Vielleicht ist die Frage darüber, was gutes Kinder bzw. Jugendtheater ausmacht, grundsätzlich durch die Frage zu ersetzten: Was eine gute Begegnung zwischen Zielpublikum und Theatemacher*innen ausmacht und wie sich diese gestalten lässt? Das Festival könnte sich mehr und mehr dahin entwickeln, genau dafür einen Rahmen zu schaffen. Natürlich mit der Voraussetzung, dass von beiden Seiten ein Interesse besteht.

Das Schöne, was ich aus meinen Praxisbeobachtungen jetzt schon zurück spiegeln kann: „Liebe Theatermacher*innen, die Kinder und Jugendlichen, haben richtig Bock auf Euch!“

Hier geht’s zum Gespräch mit Alice und JayJay

Sarah Kramer
Sarah Kramer arbeitet Theaterpädagogin am THEATER AN DER PARKAUE und lebt in Berlin. Ihr Studium absolvierte sie am Institut für Theaterpädagogik (HS Osnabrück). Sarah leitet Theatergruppen und Projekte für Jugendliche, Kinder und Erwachsene.

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